Chirophonetik
Die Chirophonetik ist nicht als Anthroposophische Körpertherapie durch die Medizinischen Sektion am Goetheanum anerkannt. (Stand: Sommer 2023)
Therapie durch Sprache und Berührung
Die Chirophonetik arbeitet mit den verborgenen Kräften der Laute und Rhythmen der menschlichen Sprache als therapeutisches Mittel. Mit seinen Händen streicht der Therapeut Laut-Reihen und Rhythmen in Form von sanften Massagestrichen auf den Leib des ruhenden Patienten und tönt dazu die Laute.
Historischer Kontext
Die Chirophonetik wurde in den 1970er Jahren entwickelt von dem Sprachheilpädagogen Dr. Alfred Baur. Sie entstand im Rahmen seiner therapeutischen Arbeit in Linz/Österreich mit nicht sprechenden Kindern, und basiert auf den Ideen der Metamorphose nach der Menschenkunde Rudolf Steiners.
Alfred Baur (1925–2008) arbeitete in Linz seit 1953 in einer sprachheilpädagogischen Praxis zusammen mit seiner Frau, einer anthroposophischen Ärztin. Zuvor hatte er in Graz Germanistik und Geschichte studiert und mit einer Arbeit zu Entwicklungskrisen der Kindheit zum Dr. phil. promoviert.
Im Jahr 1972 versuchte er zuerst, einem nicht-sprechenden Kind die Lautbildung auf den Rücken zu „schreiben“. Basierend auf den Metamorphose-Gedanken der anthroposophischen Menschenkunde strich er mit den Händen die Formen nach, die der Luftstrom im Munde beim Sprechen bildet, und tönte gleichzeitig die Laute dazu. Auf diese Weise konnten die Kinder die Laute nicht nur hörend, sondern auch tastend wahrnehmen. Nach wenigen Wochen stellten sich erste Erfolge ein.
Bis 1976 hatte er die neue Behandlungsmethode so weit entwickelt, dass er sie therapeutisch und heilpädagogisch Tätigen in Fortbildungskursen vermitteln konnte. In den folgenden Jahren bis in das Jahr 2000 hinein reiste Alfred Baur von Österreich aus viele Male nach Deutschland, die Schweiz, England, Holland, Italien, Tschechien und Skandinavien. Von 1985–1991 reiste er auch nach Brasilien, Neuseeland und in die USA, um insgesamt über 190 Kurse zum Erlernen der Chirophonetik zu geben.
Zunächst fand die Chirophonetik vor allem Eingang in die Heilpädagogik. Über die Jahre und durch die Arbeit seiner Schüler ist die Chirophonetik längst über die Anbahnung des Sprechens und den Bereich der Pädagogik und Heilpädagogik hinausgewachsen. Sie hat sich als hilfreich erwiesen in der Altenpflege, bei seelischen und psychosomatischen Beschwerden und bei allgemeinen Erschöpfungszuständen, bei Schlafstörungen, als Begleittherapie bei chronischen Erkrankungen und zur Unterstützung von medizinischen Maßnahmen.
Der Name Chirophonetik leitet sich von den beiden griechischen Wörtern für Hände (cheir) und dem Laut (phoné) her. Alfred Baur bezeichnete seine neue Therapie zunächst als Therapeutische Sprachmassage. Von dem anthroposophischen Arzt Gisbert Husemann kam der Vorschlag, die Therapie „Therapeutische Chirophonetik“ zu nennen. Alfred Baur kürzte den Namen ab und nannte seine Methode einfach Chirophonetik.
Grundlagen der Methode
Grundlage der Chirophonetik sind die verborgenen Kräfte der Laute und Rhythmen der menschlichen Sprache. Diese werden als therapeutisches Mittel wirksam gemacht durch die von Alfred Baur entwickelten Lautformen, die durch den Klang der Stimme und eine klare, rhythmische Streichweise vom Therapeuten auf den Patienten übertragen werden. Der Patient hört den Laut und spürt gleichzeitig auf der Haut den leichten Druck, die Bewegung und die Wärme der Hände des Therapeuten.
Jeder gesprochene Laut hat eine eigene charakteristische Luftströmungsgestalt. Diese entsteht während der Artikulation durch die plastizierende Tätigkeit der Sprachorgane (Kehlkopf, Zunge, Gaumen, Zähne, Lippen und Nase). Die therapeutische Wirksamkeit der einzelnen Laute, ihre spezifische Lautqualität, lässt sich vor allem herleiten aus einer genauen Betrachtung der Lautbildung, d.h. der Arten und Orte der Lautbildung und der darin zum Ausdruck kommenden Lautgesten. In der Heileurythmie und der therapeutischen Sprachgestaltung werden die Laute in ähnlicher Weise als therapeutisches Mittel im Rahmen der anthroposophischen Medizin eingesetzt.
Wenn eine Lautform gestrichen wird, richtet der Patient seine Aufmerksamkeit auf die Bewegungsspur. Er „liest“ diese Form und gleichzeitig hört er den Laut. Dieser Eindruck wird mehrfach wiederholt. Tast- und Sprachsinn vereinen sich zu einem verstärkten Wahrnehmen der Laute. Die Laute dringen tief in die Seele ein, weil Laute ja nicht etwas bedeuten, wie Wörter oder Sätze. Scheinbar untätig gibt sich der Patient dem hin, was mit ihm geschieht, und erlebt das Wahrgenommene doch mit großer Aufmerksamkeit:
Der Patient fühlt die gestrichene Form und hört gleichzeitig den Laut. Dies führt zu einer Laut- und Körpererfahrung, die den Patienten entspannt, aber zugleich auch seine Aufmerksamkeit weckt. Schon allein das Hören eines Lautes regt den Patienten an, jenen innerlich mitzusprechen. Die gleichzeitige Berührung verstärkt den Sprechimpuls noch mehr.
Der Tastsinn erscheint uns im Allgemeinen im Vergleich zu unseren anderen Sinnen nicht so wichtig, jedoch teilt er etwas mit, das entscheidend ist für das Seins-Gefühl des Menschen. Das tastende Wahrnehmen vermittelt uns das sichere Erleben, dass die Welt wirklich vorhanden ist und dass wir selbst in unserer Haut anwesend sind.
Basierend auf einer medizinischen oder heilpädagogischen Diagnose und einer Anamnese des Patienten stellt der Therapeut seine Lautmedikation individuell zusammen, abgestimmt auf die gesundheitlichen Bedürfnisse des Patienten.
Arbeitsfelder
Die Chirophonetik wurde von Alfred Baur im Rahmen seiner Tätigkeit als Sprachheilpädagoge zunächst als Therapie zur Sprachanbahnung entwickelt. Durch seine Fortbildungskurse, die er seit 1976 für Menschen gab, die bereits einen pädagogischen oder therapeutischen Beruf ausübten, hat sich die Chirophonetik im Laufe der Jahre immer weitere Arbeitsfelder erschlossen. Diese Entwicklung ist sicher noch nicht abgeschlossen.
Generell kann man sagen, dass die Chirophonetik die Selbstheilungskräfte in umfassender Weise aktiviert (Salutogenese), und dass sie für Menschen jeden Alters anwendbar und hilfreich ist. Spannung und Entspannung lassen sich mit der Therapie zum Ausgleich bringen, Aufbau- und Abbauprozesse, sowie Puls und Atmung werden in einen harmonischen Rhythmus gebracht. Das alles wirkt integrierend auf Körper, Seele und Geist des Menschen.
Interdisziplinäres Arbeiten
Die Ausbildung der Chirophonetik ist eine Zusatzausbildung, die in der Regel auf einem pädagogischen, heilpädagogischen, pflegerischen oder therapeutischen Grundberuf aufbaut. Durch diesen interdisziplinären Hintergrund der Studenten ist die Zusammenarbeit und der Austausch mit anderen Therapien und Berufen bereits in der Ausbildung angelegt.
In der Ausübung als Therapie wird die Chirophonetik zumeist im Rahmen der jeweiligen beruflichen Tätigkeit ausgeübt, das heißt im Arbeitszusammenhang der entsprechenden Einrichtung (Schule, Heim, Krankenhaus, Gemeinschaftspraxis usw.), so dass der Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Therapien tägliche Praxis ist.
Auch selbstständige Therapeuten in eigener Praxis stehen in der Regel im Austausch über ihre Arbeit mit anderen Pädagogen, Heilpädagogen, Therapeuten oder Ärzten der Patienten.
Innerhalb der anthroposophischen Ärzteschaft ist die Chirophonetik als noch junge Therapie bisher noch wenig bekannt. Erst wenige Ärzte und Ärztinnen haben selber eine Ausbildung zum Chirophonetik-Therapeuten gemacht. Die Zusammenarbeit mit einem Arzt oder einer Ärztin ist in der Chirophonetik in jedem Fall möglich und erwünscht.
Fortbildung
Schulungsangebote in der Anthroposophischen Körpertherapie
Organisationsformen
Der erste Berufsverband für Chirophonetik entstand 2004 in Deutschland zusammen mit einem Förderverein als Träger der Deutschen Schule für Chirophonetik
- die Freie Initiative zur Förderung der Chirophonetik e.V. und
- der Berufsverband Chirophonetik e.V.
- www.chirophonetik.de
In mindestens 11 weiteren Ländern gibt es derzeit ebenfalls nationale Vereinigungen zur Chirophonetik, meist als Träger der entsprechenden Schulen und Kurse in diesen Ländern.
Die entsprechenden Internetadressen finden Sie auf den Webseiten der Weltweiten Arbeitsgemeinschaft für Chirophonetik – WACH: www.wach-chirophonetik.org
Die Weltweite Arbeitsgemeinschaft für Chirophonetik – WACH versteht sich als ein freier Zusammenschluss von Menschen, die ihre Ausbildung in Chirophonetik abgeschlossen haben und daran interessiert sind, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsam die Grundlagen zu studieren und die Chirophonetik weiter zu erforschen.
Weitere Organisationen innerhalb der Bewegung der Chirophonetik sind:
- die Nachlass Alfred Baur GbR, zur Herausgabe der Studienschriften, Wahrung und Verwaltung der Lizenzrechte, Aufbewahren und Ordnen des gesamten Nachlasses von Alfred Baur
- der Stiftungsfonds für Chirophonetik, zur weltweiten Unterstützung der Ausbildung und Verbreitung der Chirophonetik im Rahmen seiner Satzung
Literatur
- Baur A.,Lautlehre und Logoswirken – Grundlagen der Chirophonetik, Stuttgart, Mellinger Verlag, 1996, 2. erg. Aufl.
Das Buch wurde bisher in zwölf Sprachen übersetzt, von denen die Übersetzungen in Englisch, Italienisch, Portugiesisch im Buchhandel erhältlich sind - Baur A., Chirophonetik – Therapie durch Laut und Berührung, Bad Liebenzell, Gesundheit aktiv, 2011, 2. erg. Aufl.
- Schulz D.,Chirophonetik, Frankfurt a.M., Info3-Verlag, 2016
Veröffentlichungen:
- Abstracts der Vorträge und Poster der Jahrestagung der Medizinischen Sektion am Goetheanum, 17.–20.09.2015, Dornach, Teil 1, Der Merkurstab 2016; 69(1):
- 13/ C.K.O. Sales, et.al: Chirophonetics in the relief of pain on a patient with post-poliomyelitis syndrome-case report.
- 14/ M.E.C. Obniski, et.al.: Chirophonetics: an anthroposophic therapy for the relief of pain in post-poliomyelitis syndrome – report on the care of a group of patients
- 15/ M.E.C. Obniski: Fundamentals of Chirophonetic Therapy – a proposal in integrative care.
- Baur A., Chirophonetik, eine Therapie mit den Kräften der Laute, Beiträge zu einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, Der Merkurstab 1983;36(4):127-130.